"Trenne dich nie von deinen Illusionen und Träumen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du zwar weiter existieren, aber aufgehört haben, zu leben." - Mark Twain

Freitag, 5. Oktober 2012

Der Trümmerhaufen


Als er sich umblickte, fand er einen Trümmerhaufen vor.

Urplötzlich, wie aus dem Nichts, tauchte ein Mann aus dem Schutt hervor. Der Mann war stattlich gekleidet, trug er doch einen Anzug mit Krawatte. In der Hand hielt er eine Aktentasche. 

„Was haben Sie da nur angerichtet?“, rief der Mann, während er auf ihn zulief. „Es ist hier ja alles zerstört! Ein einziger Trümmerhaufen!“
„Ich?“, antwortete er entrüstet. „Ich war das nicht! Das war schon so!“
Der Mann, inzwischen bei ihm angelangt, wischte sich zunächst den Staub von seinem Anzug und stellte die Aktentasche neben sich ab. All das geschah mit einer derartigen Seelenruhe, sodass es nur umso erstaunlicher war, dass der Mann nun tief Luft holte und mit erhobenem Zeigefinger zum Gegenschlag ansetzte:
„Nun reden Sie sich doch nicht raus! Sie sind weit und breit die einzige Menschenseele, die hier steht und behaupten dennoch steif und fest, nicht für diesen Trümmerhaufen verantwortlich zu sein? Mit Verlaub, mein Herr, aber denken Sie denn tatsächlich, mich so leicht zum Narren halten zu können? Denken Sie nicht, dass Sie sich im Augenblick ein wenig lächerlich machen?“
„Nein, das denke ich nicht“, antwortete er trocken. „Ich habe mich lediglich umgeblickt und bekam diesen Trümmerhaufen zu Gesichte. Es ist mir schleierhaft, wo er herkommt und ebensowenig kann ich Ihnen Auskunft darüber erteilen, wer dafür zur Rechenschaft gezogen werden muss.“
„Mein Herr“, erwiderte der Mann, „diese Ausreden sind mir bereits hinlänglich bekannt. Ich fasse mich daher kurz: Entfernen Sie diesen Trümmerhaufen – und zwar unverzüglich!“
„Wie kommt es denn“, entgegnete er, „dass Sie dazu befugt sind, mir aufzutragen, diesen Trümmerhaufen zu entfernen? Wer sind Sie denn überhaupt, wenn die Frage gestattet ist?“
„Ich?“, rief der Mann entrüstet. „Ist das denn nicht offensichtlich? Ich bin der Trümmerhaufen-Inspekteur. Wer denn auch sonst? Und Kraft meines Amtes bitte ich Sie inständig, diesen Trümmerhaufen umgehend zu entfernen. Andernfalls müssen Sie mit Sanktionen rechnen. Guten Tag!“
Der Trümmerhaufen-Inspekteur rümpfte die Nase, drehte sich um und marschierte schnurstracks davon.

Ihn packte die Wut. Hätte er sich doch bloß nicht umgeschaut, so hätte er den Trümmerhaufen nicht gesehen und der Trümmerhaufen-Inspekteur hätte ihm nichts anlasten können. Er war so wütend über diese himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass er den Hammer, den er in seinen Händen hielt, entzwei brach.

Donnerstag, 15. März 2012

Um Hilfe geflüstert

Unbehelligt lief sie die Einkaufsstraße entlang. Wieder mal war sie nicht fündig geworden.


„Hilfe!“



„Hilfe!“




„Hilfe!“


Was war das?


„Hilfe!“

Rief da nicht jemand ganz leise um Hilfe? Oder bildete sie sich das nur ein? Sie schaute sich um. „Hilfe!“ Da war es schon wieder. Von woher kam es bloß? „Hilfe!“ Und noch einmal. Sie schaute sich erneut um. „Hilfe!“ Nur wenige Meter von ihr entfernt lief ein Mann. War er es etwa, der um Hilfe bat? Schwer vorstellbar. Sie spitzte die Ohren.

„Hilfe!“

Jetzt war sie sich sicher: Es kam tatsächlich von dem Mann. Ohne jeden Zweifel. Schielte er etwa gerade zu ihr rüber? „Hilfe!“ Sie musste ihn ansprechen. Vielleicht benötigte der Mann ja tatsächlich Hilfe und war – weshalb auch immer – nicht in der Lage, laut darum zu rufen.

Sie näherte sich ihm. Sie räusperte sich.
„Entschuldigen Sie? Kann es sein, dass Sie Hilfe benötigen?“
Der Mann blieb stehen und schaute sie überrascht an. „Ich? Hilfe? Sehe ich denn so aus, als würde ich Hilfe benötigen? Habe ich denn etwa um Hilfe gerufen?“, sagte der Mann verwundert.
„Gerufen nicht, nein. Aber geflüstert. Sie haben um Hilfe geflüstert. Die anderen Leute haben es vielleicht nicht gehört, ich aber schon. Ich habe es gehört.“
Sie standen sich einige Augenblicke lang wortlos gegenüber.
„Tut mir Leid, da müssen Sie sich geirrt haben. Ich habe nicht um Hilfe gerufen. Und auch nicht geflüstert. Mir geht es gut. Aber danke der Nachfrage. Auf Wiedersehen!“

Der Mann lief weiter, während sie zurückblieb.

„Auf Wiedersehen!“, flüsterte sie. Sie schaute ihm nach. Vielleicht würde er sich noch einmal umdrehen.


Er drehte sich noch einmal um. Und sie schauten sich gegenseitig mit einem Blick an, der so voller Hilflosigkeit war, dass ihr ein leises, kaum vernehmbares „Hilfe!“ über die Lippen rutschte.

Sonntag, 29. Januar 2012

Diese eine Stelle

Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen.

„Zu weit.“

Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen.

Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen.

„Irgendwo muss sie doch sein.“

Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen.

Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen.

Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen.

Zurückspulen. Zurückspulen.

Wiedergabe.







Stop.

„Nein, hier nicht. Hier ganz bestimmt nicht. Nein.“

Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen.

Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen.

Vorspulen. Vorspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Vorspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Vorspulen. Zurückspulen. Vorspulen. Vorspulen. Zurückspulen. Vorspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Vorspulen. Vorspulen. Zurückspulen. Vorspulen. Zurückspulen. Zuvorspulen. Vorzurückvorzurückvorzurückvorzurückvorzurückrückvorzuvorrückvorzuzuvorrück…………… Spulen.

Spulen. Spulen. Spulen.

Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen.
Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen.
Spulen. Spulen. Spulen.
Spulen. Spulen.
Spulen. Spulen. Spulen.
Spulen.

Es war außer Kontrolle geraten. Es klemmte. Es hatte sich offenbar verheddert. Mal wieder. Vielleicht hätte er sich selbst zur Besinnung rufen sollen. Vielleicht hätte er sich klarmachen sollen, dass er einen kühlen Kopf bewahren und systematisch vorgehen sollte. Ja, vielleicht hätte er realisieren sollen, dass er nur dann eine Chance hatte, sie zu finden, wenn …


Wiedergabe.

„Wiedergabe?“







Stop.

„Nein, hier nicht. Hier ganz bestimmt nicht. Nein.“

Spulen.

Spulen. Spulen. Spulen.

Spulen war das einzige, was ihm noch blieb. Alles hatte er überspult. Einfach alles. All seine Gedanken. All seine Gefühle. All seine Phantasie. All diese Dinge lebten nur noch in Einem weiter: In der Hoffnung. Denn Hoffnung lässt sich nicht überspulen.

„Ich werde niemals aufgeben. Ich werde sie finden. Diese eine Stelle.“

Und wenn er nicht gestorben ist, dann spulte er bis heute.



Zurückspulen.