"Trenne dich nie von deinen Illusionen und Träumen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du zwar weiter existieren, aber aufgehört haben, zu leben." - Mark Twain

Mittwoch, 8. September 2010

Der Kaktus auf dem Fenstersims

Es war die Nacht von Sonntag auf Montag, als er in seinem Bett lag und nicht versuchte einzuschlafen. Er versuchte es nicht einmal, es zu versuchen.

Er war zu sehr in seinen Gedanken vertieft.

Warum ist das Leben nur so kompliziert?

Er dachte eine Weile über diese Frage nach. Doch seine Gedanken verloren sich in der Belanglosigkeit, bis die Frage schon nach kurzer Zeit wieder die Oberhand ergriff und wie ein Damoklesschwert über ihm schwebte.

Warum ist das Leben nur so kompliziert?

Als er sich verzweifelt im Raum umsah, fiel sein Blick auf den Kaktus, der auf seinem Fenstersims stand. Er konnte seinen Umriss noch erkennen. Schon seit mehreren Jahren stand er dort. Immer an der gleichen Stelle. Tag für Tag.

Er beneidete diesen Kaktus so sehr.

Manchmal wünschte er sich, dass er sein Gehirn einfach ausschalten könnte. Doch das konnte er nicht. Er konnte nicht einfach ohne jede Sorge durchs Leben spazieren und alles auf sich zukommen lassen. Stattdessen dachte er immerzu daran, was war, was ist und vor allem was einmal sein wird. Und genau in dieser Hinsicht beneidete er den Kaktus auf dem Fenstersims, der einfach so vor sich hinvegetierte, ohne sich ständig zu hinterfragen, ob seine Stacheln nicht jemanden verletzen könnten. Und ohne sich Fragen zu stellen, die er nicht beantworten konnte.

Der Kaktus wusste einfach in jeder Situation was zu tun war – nichts. Und wer nichts macht, kann auch nichts falsch machen. So einfach war das Leben für den Kaktus. Obwohl der Kaktus nichts über das Leben wissen konnte, hatte er doch den Eindruck, dass der Kaktus alles wusste. Er war so viel klüger, so viel weiser als er. Der Kaktus war ihm über.

Plötzlich wurde er von einer unglaublichen Wut auf den Kaktus erfüllt. Mit welcher Arroganz er dort auf dem Fenstersims stand und wie ein Lehrer auf seinen Schüler herabblickte. Einen Moment lang liebäugelte er damit, ihn hochkant aus dem Fenster zu werfen. Doch seine Wut entschwand und machte Platz für eine tiefe schwarze Leere, die nun Besitz von ihm ergriff. Minutenlang starrte er den Kaktus mit einem unfassbar leeren Blick an und regte sich nicht von der Stelle. Er wusste nicht, ob er währenddessen an etwas dachte – darüber dachte er nicht nach.

Ohne etwas dagegen tun zu können, kam er schließlich wieder zur Besinnung.
„Ein Kaktus sollte man sein“ murmelte er, drehte sich zur Seite und fiel langsam in den Schlaf.


„Warum ist das Leben nur so einfach?“ dachte der Kaktus. Ihm war sterbenslangweilig. Er war verdammt dazu, hier auf diesem Fenstersims vor sich hin zu vegetieren, ohne auch nur einen Finger rühren zu können. Er hatte ja nicht mal einen Finger.
Als er sich verzweifelt im Raum umsah, fiel sein Blick auf den Menschen, der in seinem Bett lag.

Er beneidete diesen Menschen so sehr.

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